Im Dezember 2024 sorgte ein Urteil des Landgerichts Hamburg für erhebliches Aufsehen: Fast 33 Jahre nach dem gewaltsamen Tod des Blumenhändlers Karl-Heinz R. wurde der Angeklagte Nelu P. freigesprochen, obwohl das Gericht von seiner Täterschaft überzeugt war. Dieser Fall wirft ein Schlaglicht auf die Herausforderungen der Justiz bei der Aufklärung jahrzehntealter Verbrechen und die Grenzen des deutschen Strafrechts in Bezug auf Verjährungsfristen.

Hintergrund der Tat

Am Morgen des 13. März 1992 fiel einem Mitarbeiter des Blumenstands am Hamburger Hauptbahnhof auf, dass sein Chef, Karl-Heinz R., nicht zur Arbeit erschienen war – ein ungewöhnliches Verhalten für den sonst zuverlässigen 60-Jährigen. Besorgt begab sich der Mitarbeiter nach Feierabend zu R.s Wohnung im Stadtteil Horn. Da niemand öffnete, alarmierte er die Feuerwehr, die schließlich die Leiche von Karl-Heinz R. im Schlafzimmer fand. Der Tote wies Kopfverletzungen durch stumpfe Gewalt sowie Würgemale am Hals auf; zudem war die Wohnung durchwühlt, und die Tageseinnahmen des Blumenstands, etwa 1.500 bis 2.000 D-Mark, fehlten.

Ermittlungen und DNA-Analyse

Trotz intensiver Ermittlungen blieb der Fall über Jahrzehnte ungelöst. In den Jahren nach der Tat wurden die gesicherten Spuren mehrfach kriminaltechnisch untersucht. Im Mai 2023 führte ein DNA-Abgleich in Italien zu einem Treffer: Die DNA stimmte mit der von Nelu P., einem heute 54-jährigen Rumänen, überein. Nelu P. wurde daraufhin in Großbritannien lokalisiert, festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert.

Prozessverlauf

Im September 2024 begann der Prozess gegen Nelu P. vor dem Landgericht Hamburg. Die Staatsanwaltschaft warf ihm Mord aus Habgier vor und forderte eine lebenslange Freiheitsstrafe. Laut Anklage habe Nelu P. mit dem Opfer Alkohol konsumiert; es sei vereinbart worden, dass der Angeklagte gegen Geld sexuelle Handlungen mit dem Blumenhändler vornehme. Während eines Streits habe er dem 60-Jährigen mehrfach mit einer Flasche auf den Kopf geschlagen, ihn mit einem zerrissenen Bettlaken gefesselt, geknebelt und schließlich erdrosselt.

Die Verteidigung bestritt die Tatbeteiligung und argumentierte, dass die DNA-Spuren lediglich auf einen einvernehmlichen Kontakt hindeuteten. Zudem sei der Blumenhändler dafür bekannt gewesen, häufig junge Männer zu sich einzuladen, was alternative Tatverdächtige nahelegte. Die Beweisführung gestaltete sich schwierig, da viele Zeugen entweder verstorben oder dement waren, und Erinnerungen nach so vielen Jahren verblasst sind.

Urteil und Begründung

Am 18. Dezember 2024 sprach das Landgericht Hamburg Nelu P. frei. Die Vorsitzende Richterin Birgit Woitas betonte, dass die Kammer zwar überzeugt sei, dass Nelu P. der Täter sei, jedoch die für eine Mordverurteilung erforderlichen Merkmale nicht zweifelsfrei festgestellt werden konnten. Da Totschlag nach 20 Jahren verjährt ist, war eine Verurteilung in diesem Punkt nicht mehr möglich. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig; eine Haftentschädigung soll der Angeklagte nicht erhalten.

Juristische Implikationen

Dieser Fall verdeutlicht die Herausforderungen bei der Aufklärung von „Cold Cases“ im deutschen Rechtssystem. Die unterschiedlichen Verjährungsfristen für Mord (keine Verjährung) und Totschlag (20 Jahre) können dazu führen, dass Täter trotz erdrückender Beweise straffrei bleiben, wenn die spezifischen Mordmerkmale nicht nachgewiesen werden können. Zudem zeigt der Fall die Bedeutung einer lückenlosen Beweissicherung und -aufbewahrung über Jahrzehnte hinweg.

Obwohl DNA-Spuren des Angeklagten am Tatort gefunden wurden, reichten diese nicht aus, um die Mordmerkmale wie Habgier oder die Ermöglichung einer anderen Straftat zweifelsfrei zu belegen. Der Freispruch trotz erwiesener Täterschaft wirft Fragen zur Gerechtigkeit und den Grenzen des Strafrechtssystems auf. Es bleibt zu diskutieren, ob und wie gesetzliche Anpassungen vorgenommen werden sollten, um in ähnlichen Fällen eine angemessene Strafverfolgung zu gewährleisten.

Quellenangaben:

  1. Hamburger Abendblatt: „Hamburger Blumenhändler getötet – aber Freispruch für Täter“, veröffentlicht am 08.01.2025.​
  2. Hamburger Abendblatt
  3. NDR: „“Cold Case“ in Hamburg: Freispruch trotz erwiesener Schuld“, veröffentlicht am 18.12.2024.​
  4. Radio Hamburg: „Freispruch im Prozess um Mord an Blumenhändler von 1992“, veröffentlicht am 18.12.2024.​
  5. BILD: „Hamburg: Freispruch im Mordfall Blumenhändler – obwohl der Angeklagte der Täter ist“, veröffentlicht am 18.12.2024.​
  6. WELT: „Richterin hält Angeklagten für den Täter und spricht ihn dennoch frei“, veröffentlicht am 18.12.2024.​

Juristische Hintergründe der Entscheidung

Der Freispruch im Fall des 1992 getöteten Hamburger Blumenhändlers Karl-Heinz R. wirft komplexe juristische Fragen auf, insbesondere im Hinblick auf Verjährungsfristen, Beweiswürdigung und die Anwendung von Mordmerkmalen im deutschen Strafrecht.​

Verjährungsfristen im deutschen Strafrecht:

Im deutschen Strafrecht unterliegen Straftaten unterschiedlichen Verjährungsfristen. Während Mord gemäß § 78 Absatz 2 des Strafgesetzbuches (StGB) nicht verjährt, beträgt die Verjährungsfrist für Totschlag (§ 212 StGB) 20 Jahre. Dies bedeutet, dass eine Verfolgung von Totschlag nach Ablauf dieser Frist nicht mehr möglich ist. Im vorliegenden Fall lag die Tat bereits 33 Jahre zurück, sodass eine Verurteilung wegen Totschlags ausgeschlossen war.​

Anwendung von Mordmerkmalen

Für eine Verurteilung wegen Mordes müssen spezifische Mordmerkmale erfüllt sein, die in § 211 StGB definiert sind. Dazu zählen unter anderem Mord aus Habgier, zur Ermöglichung oder Verdeckung einer Straftat oder aus sonstigen niedrigen Beweggründen. Im Prozess gegen Nelu P. konnte das Gericht nicht zweifelsfrei feststellen, dass eines dieser Mordmerkmale vorlag. Obwohl die Kammer überzeugt war, dass der Angeklagte die Tat begangen hat, reichten die Beweise nicht aus, um ein Mordmerkmal nachzuweisen. Daher war eine Verurteilung wegen Mordes nicht möglich.​

Beweiswürdigung und Zweifelssatz

Ein fundamentales Prinzip im deutschen Strafrecht ist der Grundsatz „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten. Das bedeutet, dass ein Gericht nur dann zu einer Verurteilung gelangen darf, wenn es von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist und keine vernünftigen Zweifel bestehen. Im vorliegenden Fall waren die Beweise, insbesondere aufgrund der langen Zeitspanne und des Todes oder der Demenz vieler Zeugen, nicht ausreichend, um die erforderlichen Mordmerkmale zweifelsfrei festzustellen. Daher musste das Gericht den Angeklagten freisprechen, obwohl es von seiner Täterschaft überzeugt war.​

Haftentschädigung

Obwohl Nelu P. freigesprochen wurde, entschied das Gericht, ihm keine Haftentschädigung zuzusprechen. Dies ist im deutschen Recht möglich, wenn das Gericht der Ansicht ist, dass der Angeklagte die Inhaftierung durch eigenes Verhalten verursacht hat oder wenn trotz Freispruchs eine hohe Wahrscheinlichkeit seiner Täterschaft besteht.​

Rechtliche Folgen

Der Fall verdeutlicht die Herausforderungen und Grenzen des deutschen Strafrechtssystems bei der Aufklärung von sogenannten „Cold Cases“. Die strikte Anwendung von Verjährungsfristen und die hohen Anforderungen an den Nachweis von Mordmerkmalen können dazu führen, dass trotz vorhandener Hinweise auf die Täterschaft eine Verurteilung nicht möglich ist. Dies unterstreicht die Bedeutung sorgfältiger Beweisführung und der Notwendigkeit, gesetzliche Regelungen regelmäßig zu überprüfen, um sowohl den Rechten der Opfer als auch denen der Beschuldigten gerecht zu werden.